Vegane Ernährung: "Der kritischste Nährstoff ist Vitamin B12"
Diplom-Oecotrophologin Silke Restemeyer von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. kennt sich mit Veganismus aus. Die Expertin erklärt, worauf es bei der veganen Lebensweise ankommt.
Gelbe Seiten: Veganes Essen liegt im Trend, inzwischen ernähren sich über 1,2 Millionen Deutsche gänzlich ohne tierische Produkte. Werden Veganer durch ihre Nahrung denn auch ausreichend mit Nährstoffen versorgt?
Silke Restemeyer: Bei einer rein pflanzlichen Ernährung ist eine ausreichende Versorgung mit einigen Nährstoffen nicht oder nur schwer möglich. Der kritischste Nährstoff ist dabei Vitamin B12, da dieser ausschließlich von Mikroorganismen produziert wird und in einer für den Menschen verfügbaren Form fast nur in tierischen Lebensmitteln vorkommt. Erwachsene sollten drei Mikrogramm täglich davon zu sich nehmen, schwangere und stillende Frauen haben sogar einen erhöhten Bedarf. Sonst drohen Blutarmut, neurologische Schäden, Müdigkeit und Antriebslosigkeit.
Gelbe Seiten: Sind Veganer also auf Vitamin-B12-Präparate angewiesen?
Restemeyer: Ja, wer sich dauerhaft vegan ernähren möchte, sollte ein solches Präparat auf jeden Fall regelmäßig einnehmen. Es gibt zwar pflanzliche Lebensmittel wie Sauerkraut, Kimchi, Shiitake-Pilzeoder Nori-Algen, die durch bakterielle Gärung Spuren von Vitamin B12 enthalten, aber die ausreichende Zufuhr mit diesem wichtigen Vitamin ist dadurch nicht gewährleistet. Es ist nicht mal abschließend geklärt, ob die darin enthaltene Form des Vitamins B12 für den Menschen überhaupt verwertbar ist.
Gelbe Seiten: Sind Vitamin-B12-Präparate aus dem Drogeriemarkt ausreichend oder nur Produkte aus der Apotheke zu empfehlen?
Restemeyer: Grundsätzlich sind Produkte aus dem Drogeriemarkt ausreichend. Veganer sollten die Versorgung aber regelmäßig ärztlich überprüfen lassen und die Dosierung des Präparates mit dem Arzt besprechen.
Gelbe Seiten: Auf was sollten Veganer in Sachen Nährstoffe sonst noch achten?
Restemeyer: Es gibt weitere, zumindest potenziell kritische Nährstoffe bei veganer Ernährung: Protein beziehungsweise unentbehrliche Aminosäuren und langkettige n-3-Fettsäuren sowie weitere Vitamine wie Riboflavin und Vitamin D. Auch einige Mineralstoffe wie Kalzium, Eisen, Jod, Zink und Selen gehören dazu. Veganer sollten daher sehr gezielt nährstoffdichte Lebensmittel und angereicherte Lebensmittel auswählen, um die Nährstoffversorgung sicherzustellen.
Gelbe Seiten: Jeder Mensch ernährt sich anders. Wie weiß ein Veganer denn, welche Nährstoffe ihm bei seiner individuellen Nahrungsaufnahme fehlen?
Restemeyer: Wir empfehlen, eine Beratung bei einer qualifizierten Ernährungsfachkraft in Anspruch zu nehmen und sich als Veganer regelmäßig vom Arzt durchchecken zu lassen. Bei kritischer Versorgung mit einzelnen Nährstoffen ist auch hier anzuraten, auf Nährstoffpräparate zurückzugreifen.
Gelbe Seiten: Welche Lebensmittel sollten bei Veganern denn regelmäßig auf dem Speiseplan stehen?
Restemeyer: Natürlich eine bunte Vielfalt an Gemüse und Obst. Daneben sind Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte wie Bohnen und Linsen sowie die vielseitig einsetzbare Sojabohne wichtige Lieferanten für Protein, B-Vitamine, Eisen und Zink. Nüsse, Ölsaaten und pflanzliche Öle enthalten die lebensnotwendigen Omega-3-Fettsäuren. Und um ausreichend mit Jod versorgt zu werden, sollten Veganer fluoridiertes Jodsalz sowie mit Algen angereichertes Meersalz mit definiertem Jodgehalt zu sich nehmen.
Gelbe Seiten: Können sich denn Leistungssportler auch bedenkenlos vegan ernähren, ohne Leistungseinbußen hinnehmen zu müssen?
Restemeyer: Ambitionierte Sportler sollten verstärkt darauf achten, über eine vielfältige Lebensmittelauswahl ihren Energie- und Nährstoffbedarf zu decken. Das funktioniert auch vegan, möglicherweise ist in Einzelfällen aber ein Ausgleich über ein Nahrungsergänzungsmittel sinnvoll.
Gelbe Seiten: Gibt es für Veganer denn noch Grundsätzliches zu beachten, was den Ernährungsplan angeht?
Restemeyer: In wenigen Fällen sind Wechselwirkungen der verschiedenen Lebensmittel problematisch. So können Substanzen wie Phytate oder Polyphenole, die zum Beispiel in schwarzem Tee und Kaffee vorkommen, die Eisenabsorption vermindern. Die Getränke sollten also nicht direkt vor, während und nach den Mahlzeiten getrunken werden.
Gelbe Seiten: Viele Veganer schwören auf vegane Ersatzprodukte aus Tofu, Soja und anderen Lebensmitteln, die den Geschmack von Fleisch und Wurst nachahmen. Sind diese denn auch gesund?
Restemeyer: Wie andere hochverarbeitete Lebensmittel auch sind solche Produkte oft mit hohen Mengen an Zucker, Fett, Salz und Zusatzstoffen versetzt und deshalb ernährungsphysiologisch ungünstig. Dennoch können auch sie einen Beitrag zur Nährstoffversorgung leisten.
Gelbe Seiten: Wir haben bisher über die Risiken veganer Ernährung gesprochen – welche gesundheitlichen Vorteile bietet sie?
Restemeyer: Eine hohe Zufuhr von ballaststoffreichen Getreideprodukten sowie Gemüse und Obst senkt viele Krankheitsrisiken, wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Krankheiten oder Diabetes mellitus Typ 2. Ebenfalls erwiesen ist, dass ein hoher Anteil an Fleischerzeugnissen in der Ernährung das Risiko für bestimmte Krankheitsbilder erhöht, darunter diverse Krebsarten. Anhand der aktuellen Datenlage lässt sich allerdings kein Vorteil für die Gesundheit von Veganern oder Vegetariern gegenüber sich vergleichbar ernährenden Mischköstlern mit geringem Fleischanteil in der Ernährung erkennen.
Gelbe Seiten: Wer sich an Ihre Empfehlungen hält, kann also bedenkenlos auf alle tierischen Produkte verzichten?
Restemeyer: Ja, solange man sich wohl dabei fühlt und gesund bleibt. Allerdings gilt das nicht für alle Menschen: Schwangere, Stillende, Säuglinge, Kinder und auch Jugendliche sollten sich nicht vegan ernähren, da der Anspruch an die Nährstoffdichte während des Wachstums höher ist. Wenn beispielsweise Kinder darüber hinaus bestimmte Lebensmittel wie Gemüse meiden, wird die Nährstoffzufuhr noch weiter eingeschränkt.
Gelbe Seiten: In anderen Ländern wie der USA oder Australien wird eine vegane Ernährung nicht so kritisch gesehen, sondern sogar für alle Altersgruppen empfohlen.
Restemeyer: Das stimmt. Es gibt jedoch nur wenige aussagekräftige Studien, die zur Beurteilung der ernährungsphysiologischen Qualität sowie zur Sicherheit einer veganen Ernährung, vor allem für Personen in sensiblen Lebensphasen, herangezogen werden können. Zudem können nordamerikanische Studien nicht zwangsläufig auf die deutsche Bevölkerung übertragen werden, da in den USA im Vergleich zu Deutschland grundsätzlich deutlich mehr mit Vitaminen und Mineralstoffen angereicherte Lebensmittel auf dem Markt sind. Daher ist die Versorgung mit den kritischen Nährstoffen in diesen Ländern einfacher zu realisieren.