Experte: „Chewing & Spitting ist oft der Beginn von Magersucht“
Andreas Schnebel: Es gibt keine genauen Zahlen. Diese Form der Essstörung ist in der therapeutischen Praxis eher selten zu finden. Hier muss von einer großen Dunkelziffer ausgegangen werden. Die Betroffenen schämen sich stark für ihr Verhalten, beziehungsweise wissen, dass es aus gesellschaftlicher Sicht „eklig“ ist. Sie halten es geheim. Die Patientinnen und Patienten, die in der Therapie bekannt sind, tun sich sehr schwer, darüber zu sprechen. Teilweise dauert es bis zu sieben Jahre, bis Betroffene mit dem Kauen-Ausspucken-Syndrom eine Beratungsstelle aufsuchen und Hilfe annehmen.
Andreas Schnebel: Ja. Chewing & Spitting ist vor allem beim weiblichen Geschlecht anzutreffen. Ein Grund ist, dass Frauen stärker auf ihre Figur achten als Männer. Zudem verarbeiten Frauen Emotionen häufiger über das Essen. Um nicht zuzunehmen, scheint Kauen und Ausspucken eine einfache Lösung zu sein: Man hat den Geschmack, nicht aber die Kalorien. Diese Form der Essstörung tritt meist im Rahmen einer Diät zum ersten Mal auf. Doch die vermeintlich gute Diät-Idee endet rasch im Kontrollverlust. Viele Frauen können nicht mehr aufhören, ihr Essen auszuspucken. Sie entwickeln ein suchtähnliches Verhalten.
Andreas Schnebel: Gefährdet sind Personen mit Selbstzweifeln und einem geringen Selbstwertgefühl. Auch bei Perfektionisten und erfolgsorientierten Menschen ist die Essstörung zu finden. Das gilt auch für Menschen, die mit ihrem Körper unzufrieden sind. Das Gefühl, das eigene Essverhalten zu kontrollieren, gibt ihnen zu Beginn Sicherheit und Stärke. Der Essstörung wohnt eine tiefe seelische Verunsicherung inne. Der Wunsch nach Kontrolle ist immer auch der Wunsch nach Sicherheit, Schutz und Stärke.
Andreas Schnebel: Was meist mit Süßigkeiten und Snacks beginnt, kann sich im fortgeschrittenen Verlauf auf ganze Hauptmahlzeiten ausdehnen. Auch die Menge der gekauten Nahrung wächst immer weiter an. Diese Gier wird durch Heißhungerattacken befeuert. Der Körper verlangt nach Kalorien, hat Hunger. Das ist ein Teufelskreis, über den die Betroffenen Stück für Stück die Kontrolle verlieren. Nur die wenigsten schaffen von selbst den Weg aus dieser Art der Essstörung. Zu sehr ist das Verhalten mit Kontrollsucht, Emotionen, Zwängen und Gewohnheit verknüpft. Oftmals entwickelt sich aus Chewing & Spitting Magersucht oder Bulimie.
Andreas Schnebel: Für die Betroffenen ist der Kontrollverlust häufig mit starken negativen Gefühlen verbunden, darunter Scham, Ekel, Angst und Schwäche. Auch die ständige Angst vor einer Gewichtszunahme begleitet das Essverhalten. Immer öfter ist ein geschluckter Bissen mit einem schlechten Gewissen verbunden. Viele ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück. Man muss allerdings auch sagen, dass es Patientinnen gibt, die keinen Ekel und keine Scham empfinden und sich ihrer Essstörung auch nicht bewusst sind. Für sie bleibt das Ausspucken ein „Diät-Trick“.
Andreas Schnebel: Auf körperlicher Ebene hat das Kauen und Ausspucken ebenfalls Folgen: Es drohen gravierende Nährstoffmängel, da der Körper nicht mehr ausreichend versorgt wird. Der Körper wird ausgezehrt. Das kann gefährlich werden, genau wie bei der Magersucht. Auch Mund, Rachen, Zähne und Zahnfleisch leiden, ebenso Magen und Darm. Der Körper reagiert auf den Kauvorgang mit der Bildung von Speichel, Magensäure und anderen Sekreten – doch es ist keine Nahrung zur Verarbeitung vorhanden. Das kann zu Schleimhautreizungen und Entzündungen führen.
Andreas Schnebel: Ich wünsche mir, dass Betroffene ihre Scham überwinden und den Mut haben, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Bei Chewing & Spitting ist es wie bei anderen Essstörungen auch: Je länger die Betroffenen mit der Behandlung warten, desto schwieriger ist die Therapie, da das Essverhalten immer mehr Raum im Leben der Betroffenen einnimmt. Hilfe finden Betroffene und Angehörige beispielsweise über ANAD e.V. Wir bieten neben Telefonberatung auch Online- und Videoberatungen an.